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29.11.2001; 20:43 Uhr
New Yorker Gericht erklärt Veröffentlichung der DeCSS-Codes für strafbar
"Nicht vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt" - Widersprüchliche Urteile

Nach einem neuen Gerichtsurteil ist unklar, ob in den USA die Veröffentlichung der sogenannten DeCSS-Codes strafbar ist oder nicht. Ein US-Berufungsgericht in New York entschied am 28.11.2001, die Verbreitung der Programmanweisungen, die eine Entfernung des bei DVDs verwendeten sogenannten Content Scrambling Systems (CSS) und ein Abspeichern von DVDs auf Festplatte oder CD-ROM ermöglichen, verstoße gegen den Digital Millenium Copyright Act (DMCA) von 1998. Die Veröffentlichung der Entschlüsselungsroutinen sei auch nicht vom Recht auf freie Meinungsäußerungen ("free speech") gedeckt, weil die DeCSS-Codes "inhaltlich neutral" ("content neutral") seien. Die Richter setzten sich damit klar in Widerspruch zu einer Entscheidung eines kalifornischen Berufungsgerichts, das erst Anfang November 2001 ausdrücklich erklärt hatte, die Veröffentlichung der Programmanweisungen sei eine "reine Meinungsäußerung" ("pure speech") und als solche von der US-Verfassung gedeckt. Verbraucherschützer und Bürgerrechtsorganisationen in den USA stehen auf dem Standpunkt, die Verbreitung der DeCSS-Codes sei bereits deshalb rechtmäßig, weil sie auch dazu genutzt werden könnten, um nach US-amerikanischem Recht als "angemessene Nutzung" ("fair use") zulässige Vervielfältigungen herzustellen. Die US-Filmindustrie hält dem entgegen, die Codes seien ausschließlich zu rechtswidrigen Zwecken entwickelt worden, nämlich zur Umgehung des Kopierschutzes urheberrechtlich geschützter Werke.

In dem in New York entschiedenen Fall hatte die Motion Picture Association of America (MPAA), der bedeutendste Berufsverband der US-amerikanischen Filmwirtschaft, im Januar 2000 den Betreiber des Internet-Angebot 2600.com, Eric Corley, verklagt, der auf seinen Seiten das Programm DeCSS zum Herunterladen angeboten hatte. Außerdem hatte Corley auf die Seiten anderer Anbieter verwiesen, die weiterführende Angaben zu dem Entschlüsselungsprogramm enthielten. Die MPAA sah in der Verbreitung des Programms einen Verstoß gegen den DMCA, der zur Verhinderung von Raubkopien die Verbreitung von Mitteln zur Umgehung von Kopierschutzmechanismen grundsätzlich untersagt. Die MPAA verwies darauf, DeCSS verwende zur Decodierung von CSS gestohlene Schlüssel ("player keys"), Einzelheiten des Verschlüsselungsverfahrens seien von den Programmieren außerdem durch Rückberechnung ("reverse engineering") ermittelt worden. Auf die Vorschriften des DMCA, die Veröffentlichung zu wissenschaftlichen Zwecken unter bestimmten Voraussetzungen zulassen, könnten sich die Betreiber von 2600.com deshalb bereits nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut nicht berufen. Die Filmindustrie verwahrte sich außerdem gegen den Vorwurf, der DMCA sei wegen Verstoßes gegen die Meinungsfreiheit ("first amendment") verfassungswidrig. Das Gesetz sei Antwort auf die besondere Bedrohung der Urheberrechte durch das digitale Zeitalter, in dem rechtswidrige Vervielfältigungen ohne Qualitätsverlust möglich seien und Werke gestohlen werden könnten, ohne Spuren zu hinterlassen. Die MPAA warnte, ohne den Schutz durch die Gerichte drohen der Filmindustrie Urheberrechtsverletzungen im großen Stil und schließlich eine "Napsterisierung" ("Napsterisation") der gesamten Branche.

Die New Yorker Richter schlossen sich diesen Argumenten in ihrem gut 70 Seiten starken Urteil im wesentlichen an. Sie warnten, dass die DeCSS-Codes die Verkaufszahlen urheberrechtlich geschützten Materials erheblich beeinträchtigten könnten. Außerdem wiesen sie darauf hin, dass rechtswidrig hergestellte Vervielfältigungen dank des Internets in wenigen Augenblicken und in unbegrenzter Anzahl weltweit verbreitet werden könnten. Vor diesem Hintergrund müsse die Meinungsfreiheit im Fall hinter den Interessen der Rechteinhaber zurückstehen. Das müsse vor allem deswegen gelten, weil die Veröffentlichung der Codes im Grunde "inhaltlich neutral" ("content neutral") sei und damit als verhältnismäßig schwache Form einer Meinungsäußerung erheblich weniger Schutz verdiene. Die Richter verglichen den DVD-Kopierschutz CSS mit einem Schloss und DeCSS mit einem "Dietrich" ("skeleton key"). Die Entschlüsselungscodes seien "ein Dietrich zum Öffnen einer abgeschlossenen Tür", meinte das Gericht. Dem umstrittenen DMCA bescheinigten die New Yorker Richter, er unterdrücke die von der US-Verfassung garantierte Redefreiheit keinesfalls, sondern diene ganz im Gegenteil "erheblichen öffentlichen Interessen" ("substantial governmental interests").

Ihre Kollegen im kalifornischen San José hatten sich im Gegensatz dazu Anfang November auf den Standpunkt gestellt, bei den DeCSS-Codes handele es sich um den "schriftlichen Ausdruck von Ideen und Informationen des Autors" über die Möglichkeit zur Entschlüsselung des Kopierschutzes von DVDs ohne Einsatz der dafür vom Hersteller vorgesehenen Verfahren. Obwohl der soziale Wert der Anweisungen möglicherweise fragwürdig sei ("questionable"), handele es sich nichtsdestoweniger um eine reine Meinungsäußerung. Dass der Beklagte, der die Codes veröffentlicht habe, unter Umständen nicht deren Urheber sei, spiele keine Rolle. Die Richter betonten, der Beklagte habe die Codes weder gestohlen noch habe er sie zu rechtswidrigen Zwecken missbraucht. Die Veröffentlichung der Codes vorbeugend zu untersagen, um ihren Missbrauch von vornherein zu unterbinden, komme einer Zensur gleich ("prior restraint"), was mit der Redefreiheit in keinem Fall zu vereinbaren sei. Das gesetzliche Recht der Filmindustrie, ihre wirtschaftlich wertvollen Geschäftsgeheimnisse zu schützen, müsse hier hinter dem von der Verfassung gewährten Recht auf freie Meinungsäußerung zurückstehen. Die Richter verwiesen auf frühere Entscheidungen anderer amerikanischer Gerichte, nach denen noch nicht einmal die nationale Sicherheit der USA ("national security interests") oder lebenswichtige öffentliche Interessen ("vital governmental interests") eine Zensur rechtfertigten.

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